Fußball bis zum Umfallen: Der FCN und die deutsche Meisterschaft 1922
Wer gewann nach dem FC Bayern die meisten deutschen Meisterschaften? Der 1. FC Nürnberg! Die Franken holten in ihrer 121-jährigen Geschichte schon neunmal den höchsten Titel im nationalen Vereinsfußball. Seine größten Erfolge feierte "der Club" dabei in den '20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nach dem Meisterschaftsgewinn 1920 und der Titelverteidigung im Folgejahr waren die Nürnberger in der Spielzeit 1921/22 Teil eines einzigartigen Kampfes um die deutsche Fußballmeisterschaft. Bei "Gegner im Detail" nehmen wir das "Meisterschafts-Drama" unter die Lupe.

Erster Akt: Das Endspiel
Lange vor der Gründung der Bundesliga im Jahre 1963 wurde der deutsche Meister in einer K.O.-Endrunde ermittelt. Für die Viertelfinals waren die Meister bzw. die Führenden der regionalen Verbände qualifiziert. Als Vorjahressieger hatten die Nürnberger einen Startplatz sicher, obwohl sie die süddeutsche Meisterschaft nicht erringen konnten.
In der Runde der besten Acht bezwang der FCN die SpVgg 1899 Leipzig-Lindenau mit 3:0 und den SV Norden-Nordwest 98 Berlin im Halbfinale mit 1:0. Somit standen die Franken zum dritten Mal in Folge im Finale um die deutsche Meisterschaft. Der Titel-Hattrick war nur noch einen Sieg entfernt.
Zum Endspiel reisten die Nürnberger ins deutsche Stadion im Berliner Grunewald, wo der HSV als Gegner wartete. Dieser entstand erst drei Jahre zuvor durch die Fusion dreier Hamburger Vereine und befand sich somit noch in den Kinderschuhen. Der FCN ging also als klarer Favorit in die Partie – nicht zuletzt auch, weil süddeutsche Mannschaften, denen aus der restlichen Republik zu dieser Zeit fußballerisch meist voraus waren. Trotzdem erwischten die Hansestädter den besseren Start in die Partie und konnten somit bereits innerhalb der ersten 20 Minuten durch einen Treffer von Hans Rave in Führung gehen. Die ambitionierten Nürnberger ließen sich das aber nicht gefallen. Direkt nach dem Wiederanstoß zeigte der fränkische Außenspieler Heinrich Träg seine Dribbelstärke, als er die Hamburger Hintermannschaft schwindelig spielte. Zum Abschluss seines Sololaufes versenkte er die Kugel im Tor. Ausgleich.
Von diesem Moment an spielten sich die Nürnberger in einen Rausch und gewannen somit die Oberhand über das Geschehen. Noch vor der Pause verwandelte Luitpold Popp einen Fernschuss zur Führung, kurz danach erhöhte Heinrich Träg auf 3:1.
Der dritte FCN-Treffer war der erste große Aufreger des Finalspiels. Der Ball landete zwar im Hamburger Tor, mit ihm aber auch Torhüter Hans Martens. Der über zwei Meter große Hüne im Tor der Rautenträger wurde vom Club-Angreifer schlichtweg umgerannt. Nach kurzer Überlegung entschied der Unparteiische Dr. Peco Bauwens - zum Leidwesen der Franken – auf Foulspiel und somit kein Tor.
Die durch diese Aktion erhitzten Gemüter kühlten sich in der direkt darauffolgenden Halbzeitpause nicht ab. Ganz im Gegenteil: Im Laufe des zweiten Durchgangs sah sich Schiedsrichter Bauwens dazu gezwungen die Begegnung zu unterbrechen und die beiden Kapitäne stellvertretend für ihre Mannschaften zu einem faireren Spiel aufzufordern. Die Ansprache trug jedoch keine Früchte.
Nur kurze Zeit später machte der Ellenbogen des HSV-Stürmerstars „Tull“ Harder eine unliebsame Bekanntschaft mit der Visage des Nürnbergers Anton Kugler. Harder sah sich selbst als Unschuldslamm, die vier ausgeschlagenen Zähne und das blutverschmierte Trikot sprachen jedoch eine andere Sprache.
Nichtsdestotrotz ging die Partie weiter, schließlich musste es noch eine Meisterentscheidung geben. Umso länger die Partie fortschritt, desto mehr riskierten die Hamburger auch nach vorne. Die Drangphase des HSV gipfelte in der 86. Minute dann in dem Ausgleichstreffer durch Hans Flohr. Mehr sollte in der regulären Spielzeit nicht mehr geschehen.
48 Jahre bevor Karl Wald das Elfmeterschießen erfand, musste die Entscheidung um den deutschen Fußballmeister 1921/22 gemäß der alten Bolzplatz-Regel „letztes Tor entscheidet“ fallen.
Bald war das Endspiel für die 22 Akteure auf dem Platz nicht mehr nur ein Duell mit dem Gegner, sondern auch ein Kampf mit der eigenen Kraft. Immer wieder auftretende Verletzungsunterbrechungen durchzogen die Extra-Spielzeit, während die Dämmerung bereits eingesetzt hatte.
Nach über zweieinhalb Stunden reiner Spielzeit war dann das Leistungspensum erreicht. Allerdings nicht bei den Nürnbergern, oder den Hamburgern, sondern beim Schiedsrichter Dr. Peco Bauwens. Der Referee ging von Wadenkrämpfen geplagt zu Boden und unterbrach die Partie für eine Behandlungspause.
Der Krampf wurde schnell ausgedrückt und die Partie war wieder in vollem Gange. Wenige Minuten später war dann aber endgültig Schluss. Diesmal waren es aber nicht Verletzungen, sondern die eintretende Dunkelheit, die ein Weiterspielen verhinderte. Nach 189 Minuten Spielzeit gingen alle Beteiligten also ohne Gewissheit im Meisterschaftskampf wieder nach Hause. Für die finale Entscheidung wurde ein sieben Wochen später stattfindendes Wiederholungsspiel anberaumt.
Zweiter Akt: Das Wiederholungsspiel
Am 6. August 1922 ging der Final-Wahnsinn weiter. Im VfB-Stadion zu Leipzig trafen sich FCN und HSV in alter Frische wieder, um den deutschen Meister zu ermitteln. Die Ereignisse aus dem ersten Spiel lösten im ganzen Land einen regelrechten Hype aus, sodass zum Wiederholungsspiel 50.000 Zuschauer anreisten – das waren über 60 % mehr als bei der Partie in Berlin.
Die Spielleitung übernahm erneut Dr. Peco Bauwens, der die Spieler beider Mannschaften diesmal an einer kürzeren Leine halten wollte. Diese Leine drohte ihm allerdings bereits in der 18. Minute zu entgleiten, als der Nürnberger Angreifer Willy Böß im Anschluss an einen hart geführten Zweikampf bei seinem Gegenspieler nachtrat. Die Konsequenz: frühzeitiges Duschen für den Franken und Unterzahl für seine Mannschaft. Das personelle Defizit ließ sich der FCN aber nicht anmerken, denn zu Beginn des zweiten Durchgangs konnte Heinrich Träg den Führungstreffer erzielen.
Wie auch schon im ersten Spiel waren die Hamburger Rothosen zum Spielende hin im Hintertreffen, konnten sich aber erneut in die Begegnung zurückkämpfen und noch vor Ablauf der 90 Minuten ausgleichen.
Kurz nach dem Gegentreffer musste der Club den nächsten Rückschlag hinnehmen. Anton Kugler – seit der ersten Partie mit vier Zähnen weniger im Mund – verletzte sich am Bein, wodurch ihm ein Weiterspielen nicht möglich war. Da Auswechslungen damals nicht erlaubt waren ging es für die Nürnberger zu neunt weiter.
Als auch nach der regulären Spielzeit kein Meister gefunden war ergab sich das bereits bekannte Szenario: Verlängerung nach Golden-Goal-Prinzip à jeweils 20 Minuten.
Der Spielstand blieb derselbe, die Nürnberger Selbst- und Gegnerzerstörung nahm aber weiter ihren Lauf. Torschütze Träg verlor seine Contenance, als er den gegnerischen Verteidiger „Ali“ Beier aus dem Nichts umrempelte. Platzverweis für Träg – acht gegen elf.
Aber auch in nunmehr dreifacher Überzahl scheiterten die Hansestädter am bärenstarken FCN-Schlussmann Heinrich Stuhlfauth.
Nach der ersten Verlängerung kam es für den Club dann noch dicker: Luitpold Popp sackte nach Abpfiff der ersten Verlängerung zu Boden. Den Nürnberger verließen nach insgesamt fast 300 Minuten reiner Spielzeit seine Kräfte und er blieb vor Erschöpfung auf dem Rasen liegen.
Popp war es nicht mehr möglich weiterzuspielen. Damit unterschritt der FCN die Mindestanzahl an Spielern. Es folgte ein Hin und Her im Leipziger Stadion.
Der HSV beharrte darauf weiterzuspielen, während die personell dezimierten Nürnberger auf keinen Fall noch gegen den Ball treten wollten. Schiedsrichter Bauwens entschied sich letztendlich dazu, auch das Wiederholungsspiel um die deutsche Meisterschaft ohne Meister zu beenden.
Dritter Akt: Das Nachspiel
Was passiert nun in so einem Fall?
Der DFB beriet sich und traf die Entscheidung den HSV zum deutschen Meister 1922 küren. Den Entschluss begründete der Verband mit den beiden Platzverweisen des FCN, durch die der Club selbstverschuldet in den personellen Engpass kam. Die Nürnberger gingen gegen das Urteil vor – mit Erfolg.
Die Tatsache, dass der Schiedsrichter die Partie beendete, während sie gerade aufgrund der Pause zwischen erster und zweiter Verlängerung unterbrochen war, diente dem FCN als Schlupfloch. Dadurch besaß der Spielabbruch keine Gültigkeit und verhinderte eine Meisterentscheidung.
Die Messe war damit aber immer noch nicht endgültig gelesen, denn der HSV legte Einspruch gegen den Beschluss ein. Der DFB-Bundestag stimmte ab und entschied erneut, dass die Hamburger Anspruch auf den Meistertitel haben. Plötzlich zog der HSV seinen Antrag jedoch wieder zurück und gab sich ohne Meisterschaft zufrieden.
Im Nachhinein warfen Hamburger Verantwortliche der DFB-Führung vor den HSV dazu gedrängt zu haben, von ihrem Anspruch zurückzutreten. Der DFB wiederum wurde wohl vom Süddeutschen Fußballverband vor die Entscheidung gestellt, entweder keinen Meister zu küren oder zukünftig, ohne die Mannschaften aus dem Süden Deutschlands auskommen zu müssen.
Wie es wohl auch immer abgelaufen sein mag. Das Endergebnis ist, dass es in der Spielzeit 1921/22 keinen deutschen Meister gab. Auf der Meisterschale sind aber sowohl der FCN, als auch der HSV für ebendiese Saison als Sieger eingraviert.